19 Literaturen, die russische und polnische, der Beachtung in der Welt erfreuen, einesteils: die Fähigkeit, Grundprobleme des sittlichen Bewußtseins in Gestalten und hinreißend wahre Handlungen nach Art des russischen realistischen Romans zu projizieren, anderenteils: die Kühnheit, die Gefühlstragik des Volkes bis in die religiös-kosmische Sphäre emporzuheben, was der Vorzug der großen Romantiker Polens war. Die Antwort, welche die Literaturgeschichte auf diese Fragen geben kann, ist eine ziemlich zurückhaltende. Was das erstere anbelangt, so ließ die verspätete Entwicklung des cechischen Romans keine großzügigen Schöpfungen von allgemein menschlicher Gültigkeit entstehen, und überdies bezeigt der cechische Geist auf dem Gebiete der Moral Abneigung gegen das Spekulative und bleibt in seinem praktischen Realismus gern an konkreten Objekten haften, die zu typisieren er entweder nicht weiß oder es nicht will. Was den zweiten Punkt betrifft, fehlte es wahrhaftig nicht an Bedingungen, unter denen die cechiBchen Schriftsteller imstande wären, aus der Kombination: Religiosität und Nationalität gediegene Werte zutage zu fördern. Ist doch ihre religiöse und politische Geschichte oftmals durch tragische Peripetien hindurchgegangen und nie hat es an Männern gefehlt, die im direkten Verkehr mit Gott stehend, in ihre Gebete auch die Erlösung und Verklärung ihres Stammes miteingeschlossen hätten. Sie sind trotzdem Ausnahmsfälle geblieben mitten in einem gar zu positiven und praktischen Menschenschlag, mochte es im 15. Jh. der Starrkopf von einem Kritiker des verdorbenen Christentums sein, wie der nach Prophetenart eifernde Petr Chelcicky, oder im 17. Jh. der evangelische Enzyklopädist J an Amos Komensky, der in seiner halb lyrischen, halb rhetorischen Prosa das Verhältnis des Individuums sowie des Kollektivums zu Gott zum Ausdrucke brachte, oder der vor kurzem verstorbene mystische Dichter mit seinem visionär ins Weltall gerichteten Blicke, Otokar Bfezina. Derartige und von ihnen verschiedene und doch ihnen gleichwertige, große und hervorragende Erscheinungen der cechischen Literatur auszuwählen, zu erklären und zu würdigen, zu zeigen, daß auch in ihnen eine verborgene, aber beachtenswerte Tradition verwirklicht wird, mit ihnen andere Schriftsteller und Dichter zu vergleichen, die ihnen den Weg gebahnt haben, und die Geistesströmungen, die sie getragen und emporgeschwungen haben, zu enthüllen - das ist die höchste Aufgabe der cechischen Literaturgeschichte, welche in Wort und Werk die Seele des Volkes ergründen will.