Der Geist der cechischen Literatu~ Von Arne N oväk Die cechische Literatur ist, abgesehen von der altkirchenslavischen, von allen ihren slavischen Schwestern die älteste. Sie hat trotz ihres ehrfurchtsvollen Alters von sechs Jahrhunderten und trotz ihres angesehenen Umfangs doch in Europa nicht jene Beachtung gefunden, auf die sie hätte Anspruch erheben könneJl; in dieser Hinsicht bleibt sie sogar weit hinter der polnischen zurück. Einige von ihren großen Persönlichkeiten haben allerdings schon in alten Zeiten ins Seelenleben Westeuropas eingegriffen und dieses durch manche Anregung befruchtet. Die deutschen Reformatoren haben anerkannt, daß es die Fackel des Hus war, die vor ihnen und zu ihren Gunsten die Flamme des religiösen traditionsfeindlichen Individualismus angezündet hat. Die segensreichen Spuren eines Komensky-Comenius findet man nicht nur im reform pädagogischen Trachten, sondern auch in den enzyklopädischen Bestrebungen, in der humanitären Sehnsucht, in den irenischen Hoffnungen der Aufklärungszeit im 18. Jh. Von dem um die Mitte des 19. Jhs. entstandenen, edlen, aber vorzeitigen Drängen, Mitteleuropa im Geiste einer völkischen Föderation und Gerechtigkeit umzubauen, ist der Name des cechischen Geschichtsschreibers und Politikers Palacky schwer wegzudenken. Spricht man gegenwärtig von einer neuen Art Mystik, die am Werke ist, die religiöse Vorstellung Gottes durch wissenschaftliche Konzeption zu vertiefen und die christliche Liebe durch das soziale Bewußtsein von der Einheit der Schöpfung zu ersetzen, so weiß der tiefer schürfende Kenner im Westen und Norden Europas einen Otokar Bfezina zu nennen, der diesem enthusiastischen Glauben einen besonders gewaltigen und persönlichen Ausdruck verliehen hat. Aber diese Individualitäten, wiewohl sie zu Grundpfeilern der cechischen Literatur gehören, beeinflussen die Welt viel mehr vermöge ihrer Gedankenkraft als durch suggestive Kunstwerte und besitzen tatsächlich auch im Rahmen heimischen Schl'ifttums - mit Ausnahme Bfezinas, bei dem der Denker dem Dichter Gleichgewicht hält - eine vorwiegend ideelle Bedeutung, die bei ihnen vom Ernst des persönlichen Schicksals freilich noch gesteigert wird; weder Hus, Komensky noch Palacky vermag man unter die großen Schriftsteller vom Schlage eines Dante, Milton oder eines Goethe einzureihen. Ihr Ruf liegt nicht im cechischen Wortkunstwerk, sondern in dem ideellen Streben des Cechentums. 1