- 297 Doch auch dieser bunte Maskenzug befriedigte den Dichter nicht; er kehrte zu der äußerst subjektiven Lyrik, die er jahrelang vernachlässigt hatte, wieder zurück und veröffentlichte sein lyrisches Meisterwerk: :»Proste motivy« (»Einfache Motive«, 1883; eine vortreffliche Auswahl bei Albert). Dieses kleine Buch, das man kurz als ein »Jahr der Seele« bezeichnen möchte, wurde öfters mit der Sammlung Haleks »In der Natur« verglichen. Es sind gleichfalls kleine frische Naturbilder in Liedform , die von allerlei Reflexionen und Betrachtungen durchbrochen sind. Doch nirgends läßt sich der Unterschied zwischen den beiden Poeten so gut beobachten, wie eben hier: Halek ist im Grunde ein naives, gesundes Naturkind, ein offenes, unmittelbares Dichtergemüt, für welches Feld und Au, Wiese und Hain etwas durchaus Selbstverständliches sind, welches in der verträumten Waldeinsamkeit alle Leiden und alle Zweifel der Welt vergißt, Neruda dagegen ist ein raffinierter Großstädter, der mißtrauisch, ja spöttisch und verstimmt in der Frühlingsnatur einen gefährlichen Ruhestörer sieht, und der sich erst nach sehr langem Zaudern und zähem Widerstande von der Frühlingsluft berauschen und von der Frühlingslust hinreißen läßt. Doch allzu gern steigt er endlich in das duftende und lockende Bad der menschlichen und poetischen Verjüngung, deren frisches Wasser durch Kindheitserinnerungen , durch Volkslied, durch neue Liebe gewürzt ist. In den Sommermotiven , wo sich seine Freude an Beschreibung kundgibt, erlebt Neruda zum letzten Male die Sinnenlust, den heiteren Übermut, das erotische Spiel; er ist ganz unerschöpflich in dem Lobe der glänzenden und glückseligen Weh. Aber dieser Rausch dauert nicht lange und allzubald kommt das nüchterne und traurige Erwachen: alte Schmerzen melden sich wieder, der herannahende Tod sendet die Krankheit als seinen verläßlichen Boten. Der letzte Abschnitt dieses lyrischen Tagebuches, wo später die litterarische Jugend den poetischen Impressionismus vorgezeichnet fand, ist düster und lebensmüde, die zarten, feinen Hände des Dichters zittern, seine Lippen, denen das Leben den süßen Liebesbecher versprochen und dafür bloß eine Schale mit bitterem Gift gereicht hat, beben vor Angst und Leid. Doch vor dem Ende da beten sie noch. Nerudas allerletzte Schöpfung, seine »Zpevy patecnic (»Freitagsgesänge«, 1896), die als ein Torso nach seinem Tode erschienen sind, sind ein Gebet