- 355 Ideen der Reformation, an die er dann die Gegenwart unmittelbar anknüpfen wollte. Diese zuweilen ganz wunderliche Hypothesenkonstruktion stiefs auf allgemeinen Widerspruch der Fachgelehrten; Masaryks anregungsreiche, wenn auch durchaus einseitige Bücher über dieses Thema: )Die cechische Frage« (1895) und ) Karel Havlicekc (1896), förderten jedoch ungemein das Studium der cechischen Wiedergeburt. In der letzten Zeit wird Masaryk, der um sich eine selbständige politische Partei, die sogenannten >Realisten«, versammelt hat, von der politischen Agitation und dem Journalismus zu sehr in Anspruch genommen; er erstarrt immer mehr und mehr und verliert auch allmiihlich jede Fühlung mit dem wissenschaftlichen und litterarischen Leben; auch seine eminent kritische Begabung und sein vorzüglicher sozialpsychologischer Scharfsinn scheiterten an der Klippe eines engherzigen Moralismus und eines gewaltsamen Freidenkerturns. Von Masaryks Schülern stand ihm der frühverstorbene Hubert Gordon Schauer (1863-1892) am nächsten; er hat Masaryks philosophische und soziale Ideen als Kritiker in die schöne Litteratur eingeführt. H. G. Schauer war eine problematische Natur, eine kranke Seele, ein verzweifelter Denker; er wurste selbst nie, ob er sich fUr cechische oder deutsche Nationalität entscheiden sollte; er schwankte fortwährend zwischen Wissenschaft und Journalistik, zwischen Nationalökonomie und Kritik; der ewige Streit der positiven Phil?sophie und des Christentums war für ihn stets eine Herzenssache. Dieser in den erbärmlichsten Verhältnissen lebende, an Schwindsucht hinsiechende Bohemien sehnte sich nach einem bedeutenden Leben, nach einem gesteigerten Dasein und hafste ehrlich die ihn drückende gesellschaftliche Misere des cechischen öffentlichen Treibens. Von der Litteratur verlangte er bedeutenden gedanklichen Inhalt, lebhaftes Interesse für religiöse und sittliche Fragen, für politische und ökonomische Probleme; er hat sein Augenmerk auf die Arbeiterund Frauenfrage gerichtet; er verurteilte mit bitterer Verachtung die Kleinstädterei, die Sentimentalität, den Konventionalismus des gleichzeitigen cechischen Schrifttums. Das gröfste Aufsehen erregten aber seine politisch-philosophischen Aufsätze in der realistischen Zeitschrift >Oas« (>Zeit«), wo er mit düsterer Verzweiflung seine Ansichten über die Nichtigkeit des aussichtslosen 23*