354 Gerüchte vorangingen, brachte der junge Dozent mit den tiefen Augen und mit der weichen slowakiSchen Aussprache die ganze böhmische Welt in Gärung, und sogleich bildete sich eine Partei für ihn, eine andere gegen ihn. Zuerst wurde er als ein überaus glücklicher und anregungsreicher Organisator der wissenschaftlichen Arbeit in Böhmen bekannt und geschätzt: er begründete eine kritische Revue grofsen Stiles; er beteiligte sich an den Vorarbeiten zu der grofsen Enzyklopädie, die seit 188in dem rührigen Verlage J. Ottos erscheint; er hat dem Handschriftenstreite, der unter Gebauer nur eine streng wissenschaftliche Fachangelegenheit geblieben wäre, eine allgemein nationale Bedeutung angewiesen; auch der jungcechischen Politik ist er nicht fern geblieben. Seine grofsen Hauptwerke »Grundzüge einer konkreten Logik« (1885, deutsch von H. G. Schauer) und »Die soziale Frage« (1898), die sich eines Weltrufes erfreuen, berechtigten T. G. Masaryk, welcher sich gern als ein Geist gibt, der stets verneint, zu geringschätzender Aburteilung über die cechische Wissenschaft und Philosophie, welche sozialen Fragen und "ethischen Problemen stets schüchtern ausgewichen war. In seinem Innern mächtig von der moralen und religiösen Krisis des materialistischen und indifferenten Zeitalters ergriffen, ist Masaryk als mutiger Vorkämpfer der öffentlichen Sittlichkeit und des ethischen Gewissens aufgetreten, worin er sich mit Carlyle, Björnson und Egidy berührt. Von dies~m Gesichtspunkte aus verurteilt er den Eklektizismus in der Litteratur und den dekadenten Dilletantismus in der Kunst, zu der er übrigens in keinem eigentlichen Verhältnisse steht; weder der französische Naturalismus noch die Romantik konnten dem Verehrer von Tolstoj und Dostojevskij sympathisch sein und der unduldsame Eifer des einseitigen Moralisten konnte sich mit Renan, dessen Geist aus Frankreich in die moderne cechische Litteratur vielfach übergegangen ist, keineswegs vertragen. Eine kritische Revision des nationalen Lebens war für Masaryk mehr als ein lautes Programmwort ; es war für ihn vielmehr ein Teil seiner Lebensaufgabe. In der böhmischen Reformation, vorzugsweise in der Brüdergemeinde , fand seine ausgesprochen protestantische Denkart den eigentlichen Sinn der cechischen Geschichte; ja auch in der nationalen Wiedergeburt, die doch eine fast ausschliefslich romantische Bewegung war, erblickte er philosophisch-religiöse