- 274 so gut beobachten, wie eben hier: Halek ist im Grunde ein naives, gesundes Naturkind, ein offenes, unmittelbares Dichtergemüt, für welches Feld und Au, Wiese und Hain etwas durchaus Selbstverständliches sind, welches in der verträumtenWaldeinsamkeit alle Leiden und alle Zweifel der Welt vergiIst, Neruda dagegen ist ein raffinierter Grofsstädter, der mifstrauisch, ja spöttisch und verstimmt in der Frlihlingsnatur einen gefährlichen Ruhestörer sieht, und der sich erst nach sehr langem Zaudern und zähem Widerstande von der Frlihlingsluft berauschen und von der Fruhlingslust hinreifsen läfst. Aber dieser Rausch dauert nicht lange, und allzubald kommt das nüchterne und traurige Erwachen: alte Schmerzen melden sich wieder, der herannahende Tod sendet die Krankheit als seinen verläfslichen Boten. Der letzte Abschnitt dieses lyrischen Tagebuches, wo später die litterarische Jugend den poetischen Impressionismus vorgezeichnet fand, ist düster und lebensmüde, die zarten, feinen Hände des Dichters zittern, seine Lippen, denen das Leben den süfsen Liebesbecher versprochen und dafür blofs eine Schale mit bitterem Gift gereicht hat, beben vor Angst und Leid. Doch vor dem Ende beten sie noch. Nerudas allerletzte Schöpfung, seine .)Freita~.?~:sänge( (1896), die als ein Torso nach seinem Tode erschienen -'sTöct, sin:d""""ein Gebetbuch. Des Dichters Altar ist seinem unglücklichen Volke geweiht, dem er sein Lebenlang treu und edel gedient hat; doch sein eigenes Leid, sein eigener Schmerz, die der Dichter als Sühneopfer dem zürnenden Gotte bringt, erinnert ihn stets an Den, der sich am Kreuze für die ganze Menschheit geopfert hat. Wie in der allerletzten Periode Heines, so vollzieht sich auch bei Neruda ein seltsamer Prozefs: die ererbten und urwüchsigen Persönlichkeitselemente, welche durch einen wirkungsvollen philosophischen und litterarischen Kultureinflufs getilgt wurden, treten auf dem Sterbebette recht stark hervor. Nur so läfst es sich erklären, dafs in diesem Buche, welches man als die Passionsblume der cechischen Poesie bezeichnen könnte, der frühere Kosmopolit und Liberale zum beredten Sprecher eigentlimlicher Rassenmystik wurde. Nerudas Bedeutung wurde erst einige Jahre nach seinem Tode allgemein anerkannt und hinreichend gewürdigt, und in demselben Grade, wie die Begeister.ung für Halek erlischt, wächst