290 modernsten Seelenergründer ihre Bewunderung nicht versagen können. Bis an sein Ende wächst N eruda poetisch; noch in seinem Nachlasse findet man eine Reihe von patriotischen Gesangen, die, in einem kleinen Band vereinigt, sein Lebenswerk würdig und erhaben abschließen. Nerudas an erschütternden Erlebnissen allzu arme Biographie ist als begleitender Text' seiner litterarischen Entwicklung lehrreich und wichtig. Aus einer armen Proletarierfamilie stammend, verbrachte Neruda seine Jugend auf der Kleinseite unterhalb des Hradschins in Prag inmitten ihrer pittoresken Architektur und ihres altmodischen Kleinbürgertums und wurde zugleich mit den alten' Prager Traditionen und mit den sozialen Verhältnissen der ärmlichen Volksschichte~ intim bekannt. Stets fühlte er mit dem unterdrückten fünften Stande, stets hob er seine Angehörigkeit zu demselben hervor, stets protestierte er gegen den harten, gewaltsamen Egoismus der herrschenden, damals meistens deutschen Klassen, die er als entschiedener Demokrat und zugleich als begeisterter Ceche ehrlich und leidenschaftlich haßte. So bekamen sein politischer Liberalismus und sein demokratisches Cechentum, wie sie sich in der schwülen Atmosphäre der reaktionären fünfziger Jahre entwickelt hatten, einen herben sozialen Beigeschmack; auch empfand Nerudas tiefer und grübelnder Geist schmerzvoller als andere die schwere Stickluft dieser trostlosen Zeit, für die er die passende Bezeichnung einer Periode, wo man lebendig begraben wird, geprägt hat. Rein persönliche Erlebnisse kommen hinzu, um das Gemüt des jungen Dichters noch düsterer zu stimmen. Neruda, der sich für die Mittelschulprofessur vorbereitet hatte und schon als Supplent an einer deutschen Realschule in Prag angestellt war, entsagte endlich, um die unbeschränkte Freiheit seiner Persönlichkeit zu wahren, diesen Plänen und entschied sich für die damals ebenso unsichere wie sozial bedenkliche journalistische Bahn, die ihn zuerst in die Redaktion eines deutschen Prager Blattes führte, wo er Lokalberichte schreiben mußte. Seine intimsten Träume, ein trautes Heim mit einem tief, aber ganz eigentümlich geliebten Mädchen zu gründen, wurden dann, als ihm sein journalistischer Beruf keine genügende pekuniäre Grundlage bot, überhaupt nicht verwirklicht. Auch war Nerudaein seltsamer Liebhaber. Eine leiden-