Der Geist der cechischen Literatu~ Von Arne N oväk Die cechische Literatur ist, abgesehen von der altkirchenslavischen, von allen ihren slavischen Schwestern die älteste. Sie hat trotz ihres ehrfurchtsvollen Alters von sechs Jahrhunderten und trotz ihres angesehenen Umfangs doch in Europa nicht jene Beachtung gefunden, auf die sie hätte Anspruch erheben könneJl; in dieser Hinsicht bleibt sie sogar weit hinter der polnischen zurück. Einige von ihren großen Persönlichkeiten haben allerdings schon in alten Zeiten ins Seelenleben Westeuropas eingegriffen und dieses durch manche Anregung befruchtet. Die deutschen Reformatoren haben anerkannt, daß es die Fackel des Hus war, die vor ihnen und zu ihren Gunsten die Flamme des religiösen traditionsfeindlichen Individualismus angezündet hat. Die segensreichen Spuren eines Komensky-Comenius findet man nicht nur im reform pädagogischen Trachten, sondern auch in den enzyklopädischen Bestrebungen, in der humanitären Sehnsucht, in den irenischen Hoffnungen der Aufklärungszeit im 18. Jh. Von dem um die Mitte des 19. Jhs. entstandenen, edlen, aber vorzeitigen Drängen, Mitteleuropa im Geiste einer völkischen Föderation und Gerechtigkeit umzubauen, ist der Name des cechischen Geschichtsschreibers und Politikers Palacky schwer wegzudenken. Spricht man gegenwärtig von einer neuen Art Mystik, die am Werke ist, die religiöse Vorstellung Gottes durch wissenschaftliche Konzeption zu vertiefen und die christliche Liebe durch das soziale Bewußtsein von der Einheit der Schöpfung zu ersetzen, so weiß der tiefer schürfende Kenner im Westen und Norden Europas einen Otokar Bfezina zu nennen, der diesem enthusiastischen Glauben einen besonders gewaltigen und persönlichen Ausdruck verliehen hat. Aber diese Individualitäten, wiewohl sie zu Grundpfeilern der cechischen Literatur gehören, beeinflussen die Welt viel mehr vermöge ihrer Gedankenkraft als durch suggestive Kunstwerte und besitzen tatsächlich auch im Rahmen heimischen Schl'ifttums - mit Ausnahme Bfezinas, bei dem der Denker dem Dichter Gleichgewicht hält - eine vorwiegend ideelle Bedeutung, die bei ihnen vom Ernst des persönlichen Schicksals freilich noch gesteigert wird; weder Hus, Komensky noch Palacky vermag man unter die großen Schriftsteller vom Schlage eines Dante, Milton oder eines Goethe einzureihen. Ihr Ruf liegt nicht im cechischen Wortkunstwerk, sondern in dem ideellen Streben des Cechentums. 1 2 Otokar l?l~:z;ina,~ die jüngste und gegenwärtigste dieser Erscheinungen, ist ein solch besonderer und doch wieder durchwegs typischer Fall. Knapp an der Scheide des 19. Jhs. gipfelte in ihm und durch ihn die hundertjährige Entwicklung jener künstlerischen Form, in welcher der Ceche, abgesehen von der Musik, die reichste Begabung, den feinsten Formensinn, die innerste Persönlichkeit an den Tag gelegt hat, nämlich die der Lyrik. Diese hat zwar schon in dem direkten Vorgänger und Antipoden Bfezinas, in Vrchlicky, mit Recht, aber nur mit mittelmäßigem Erfolg die Aufmerksamkeit des Weltforums in Anspruch genommen. Dagegen ist das cechische Schrifttum auf dem Gebiete des Romans und des Dramas bisher nicht an das europäische Wertmaß herangewachsen. Doch welch Verhängnisl Gerade die Lyrik ist es, die aufs schwerste und zugleich am unvollkommensten aus der Heimat in die Fremde ihren Weg zu finden pflegt, da beim Grenzübergang in der Dolmetscherhand das meiste von dem Farbenstaub ihrer Schmetterlingsflügel verloren geht, und in dem sie in der immer mangelhaften Wiedergabe ihres melodischen Zaubers (der dabei doch die Hauptsache bleibt) verlustig werden muß. Daher konnte außerhalb der cechischen Grenze weder ein Vrchlicky noch ein Bfezina den IWiderhall erwecken, dessen sich die cechischen Tonschöpfer Smetana, Dvofak oder J anacek erfreuen können; von der cechischen lyrischen Plejade bleiben daher fprs Ausland Dichter vom Range eines Macha, Neruda, Sladek, Sova nur matte Lichtpunkte, während sie am Himmelszelt der cechischen Poesie als Sterne erster Größe hell leuchten; eben daher wehren sich geradezu jeglichem Export und jeglicher Transplantation gegenüber Werke, in denen sicli der cechische Geist am herrlichsten, und zwar mittels einer rein künstlerischen Form in seiner Beziehung zu Gott und Welt, zu Ewigkeit und Leben, zu Liebe und Tod geoffenbart hat .... fragt sich nur, ob ein Shelley, ob ein Leopardi, Mörike, Verlaine in ihrem Urwesen der Welt so zugänglich geworden wären, hätten sie ihre Lieder nicht in einer Weltsprache gesungen? Seit ihren allerersten Ansätzen schwächt eine doppelte Schranke die Bedeutung und Wichtigkeit der cechischen Literatur und stellt sich ihrem Vordringen aufs Weltforum hinderlich in den Weg: ein Kenner der Geschichte weiß freilich, daß gerade diese Hindernisse eben in den Lebensbedingungen des nationalen Ganzen . begründet sind. In den älteren Epochen ist es die Beschränkung aufs Religiöse, in der nun kaum erst verflossenen Zeit die ver- 3 engende Nationaltendenz - zwei Kräfte, die bei anderen Völkern Werke von Weltgröße auszulösen vermochten, bei den Cechen hingegen in einer derart sonderbaren Art und Weise ausgenutzt wurden, daß sie sich die Literatur~bis zu einem sklavischen Frondienst hörig machten. Das erste Jahrhundert des cechischen Schriftwesens, noch in die unbeschränkte Herrschaft gotischer und feudaler Ideale fallend, vermochte noch zwischen dem Geiste der Kirche:ukultur und dem der Ritterschaft Gleichgewicht zu halten und zeitigte, wenngleich unter offensichtlichem Anschluß an fremde Vorbilder, eine Reihe Werke, in denen sich die besagten Komponenten organisch verbinden und in denen ein angemessenes Wortkunstniveau erreicht wurde. Aber hierauf, eben in dem Zeitraume, in welchem in Süd- und Westeuropa die Renaissance mit ihrem humanistischen Vortrab darangeht, dem Kunstsinn in den Literaturen einen Weg zu bahnen, stellte sich das cechische Volk unter dem Einfluß einer gewaltigen religiös-nationalen Bewegung, des Hussitenturns, der neuen Richtung aufs schärfste entgegen. Indem man da, vom völkischen Radikalismus ganz befangen, die feudalen Ideale zu zertrümmern bestrebt ist, bereitet man mit grausamer Hartnäckigkeit die folgerichtigste Erneuerung der gotischen Ideale vor, denen man das ganze Leben unterordnet. Weder die Hussiten noch ihre Fortsetzer, die Böhmischen Brüder, sind bereit, eine Kultur und Literatur als solche anzuerkennen, die sich nicht den religiösen Tendenzen dienstbar erwiese. Das bedeutete eine offenbare Reaktion gegen die damaligen Schöpferkräfte der Gedanken- und Kunstwelt Europas und eine verspätete Rückkehr zu der symbolischen Konzeption des Mittelalters in der Zeit eines aufblühenden Renaissancenaturalismus, aber trotz alledem hätte diese allgemeine Religionsbegeisterung bei einem jungkräftigen Volk das künstlerische Schaffen entfachen können; doch ein cechischer Dante oder ein cechischer Milton ist nicht erstanden. Insofern die cechische Religiosität nicht partei-konfessionell orientiert war und ihre Kräfte nicht in dogmatischen Streitfehden vergeudete, betrat sie einerseits den Entwicklungsweg in der Richtung zum unfruchtbaren Rationalismus, andererseits den der sittlich und sozial praktischen Lebensführung - in beiden Bereichen fühlt sich eben gewöhnlich das kritische, nüchterne und praktische Wesen der Cechen am meisten heimisch. Und da entstehen im Zeitraum vom 15.-17. Jh. auf dem cechischen Boden durchaus nicht etwa aus Religionsi~spiration quellende Werke oder gar 1* 4 mystischen Höhen nachstrebende Schöpfungen, sondern nur jene theologisch-religiös eingestellten Schriften, die sich von der Kritik der Kirche zu derjenigen der Gesellschaft erheben. Die Gesellschaftskritik nimmt freilich in ihrem folgerichtigen Altchristenprimitivismus mitunter sogar grandiose Formen an. Es war kein geringerer als Tolstoj, der einem von den besagten Werken eine geradezu europäische Bedeutung zugesprochen hat - nämlich jener großangelegten Anklage des Erdenlebens und der Wirklichkeit, die von dem radikalen Taboriten Peter Chelcicky verfaßt worden ist; man vergesse aber nicht, daß dieses Lob durch den Mund des hochbejahrten Tolstoj verkündet worden ist, und zwar in der Zeit seiner systematischen Ablehnung all dessen, was schöne Literatur im wahren Sinne des Wortes heißt. Solcherart lenkte der religiöse Geist, welcher die politische und kulturelle Geschichte des Cechentums an der Neige des Mittelalters und an der Schwelle der Neuzeit schafft, die Literatur von ihrer dichterischen Sendung ab, dämpfte ihr eigentliches Leben und entrückte sie auf diese Weise jahrhundertelang der Aufmerksamkeit der Welt. Im Zeitraum der napoleonischen Kriege, während der starken Wiedergeburtsbestrebungen aller ISlavenvölker, wurde das Religiöse von einer landeren kollektiven Geschichtstendenz abgelöst, von der nationalen Idee. Obwohl der cechische Nationalismus seine philosophische Grundlage und auch seine schlagendsten Gründe der deutschen Romantik, teilweise auch der revolutionären Gedankenwelt Frankreichs, entnommen hatte, konnte er doch auf einer althergebrachten heimischen Tradition bauen. Diese trifft man besonders in der deutschfeindlichen politischen Zuspitzung der Dalimilchronik, in den öffentlichen Kundgebungen Hussens und der Taboritenführer und endlich bei dem Jesuiten Balbin in der Zeit nach der Schlacht am Weißen Berge an. Allein seit Anfang des 19. Jhs. wurde der Nationalismus in der ganzen Geisteswelt der Cechen zu einer Haupttriebkraft, die das ganze kulturelle Geschehen regiert und sich ganz besonders die Literatur unterwürfig macht, indem sie mitunter zu absolutem Wert erhoben werden wird; erst nach dem Weltkriege, da sogar die kühnsten Hoffnungen der cechischen Patrioten durch die Schaffung einer ganz unabhängigen Cechoslovakischen Republik übertroffen waren, beginnt allmählich der Nationalismus sich seiner FührersteUung zu begeben. Dieser Nationalismus, wiewohl vom Feuer eines aufopfernden, schöpferischen Idealismus durchglüht, verleitet die Literatur oft zum praktischen Utilitarismus und be- 5 dingt hiedurch ihren unleugbar engen Gesichtskreis, der sich des öfteren bis zum Provinzialismus weiter verengt. Der europäischen Geistesrüstkammer werden nur diejenigen Gedanken entnommen, die geeignet sind, auf die Entwicklung des Nationalkörpers günstig einzuwirken und seine Lebensfähigkeit zu steigern. Von Stoffen werden diejenigen bevorzugt, von denen man Stärkung der Volkskraft erhofft, die das Selbstvertrauen und den Glauben an sich selbst zu festigen, die Liebe zur Heimatscholle, zur Bodenständigkeit, zur Volkssprache, zur großen Vergangenheit bis zum Enthusiasmus zu entflammen imstande sind. Die dichterische Form wird bisweilen jenen Stilformen angepaßt, welche, ob mit Recht oder Unrecht, als der Ausdruck der nationalen Eigenart gelten, insbesondere den Produkten der Volkspoesie. Freilich erscheinen dann die von solchen Tendenzen getragenen oder von solchen Problemen durchdrungenen Wortkunstwerke vom europäischen Standpunkt aus ~ls Lokalprodukte, die außerhalb ihres Stammlandes kaum Verständnis zu finden imstande sind. Des cechischen Panslavisten Kollar lyrisches Vermächtnis - keineswegs aber seine Nationalphilosophie - der Widerhall der cechischen Lieder seit Celakovsky bis Sladek herauf, die rhetorische Problematik der Verserzählungen und der politischen Lyrik des Svatopluk Cech, die der Heimat gewidmeten, farbenreich epißchen Chroniken des Alois Jirasek, der Kyklopentrotz des Rhapsoden Petr Bezruc, der allerdings die Liebe zu Volk und Heimat nach der sozialen Seite hin vertieft, alles dies rang trotz aller Mühewaltung einer tüchtigen Übersetzerschar leider vergeblich um Verständnis jenseits derGrenze. Die literarische Bilanz dieses cechischen Nationalismus, dessen politische Verdienste und Erfolge sonst durchaus nicht in Frage zu stellen sind, ist keine glänzende. Im Gegensatz zur Dichtkunst des italienischen Risorgimento und besonders im Vergleich zur polnischen Romantik waren die cechischen Dichter außerstande, den Nationalgedanken mit einem hinreichend starken Hauch eines um die höchsten geistigen und sittlichen Güter ringenden Menschentums zu beseelen; sie verstanden es nicht, ihn zu einer Weltallstragik zu erheben; sie vermochten nicht zu zeigen, daß erst in diesem Nationalgedanken eben die Individualität zur Entfaltung und zugleich die Humanität zur Verwirklichung gelangt .... vielleicht trägt die allzu praktische Neigung des cechischen Geistes die Schuld daran, vielleicht auch das allzu starke Übergewicht an Utilitaritätsrücksichten gegenüber den allgemeinen ideellen Konzeptionen bei einem im Grunde doch 6 unphilosophischen Volke. Nur ausnahmsweise und vereinzelt ließen sich doch aus der cechischen Dichtkunst jene Motive heraushören, für welche die romantische Lebensauffassung den rechten Rahmen schafft; die späte messianistische Lyrik Nerudas oder die aufrüttelnde Tragik zweier selbstbiographischer Romane Zeyers, die weder ein Ceche noch ein Ausländer ohne tiefe menschliche und künstlerisc.he Erschütterung lesen kann, geben über die versäumte Möglichkeit einer wirklich groß angelegten Vaterlandspoesie in Böhmen zu denken. Ebenso versetzt uns in Verwunderung, wenn wir sehen, wie ein Volk, welches dermaßen aufdringlich und folgerichtig ein ganzes Jahrhundert lang die Erhaltung seiner sprachlichen und politischen Eigenart als eine Forderung des menschlichen und göttlichen Rechtes proklamiert hat, in seinem Schrifttum so herzlich wenig von eigenem Charakter- und Brauchwesen, von seiner Moraleigenart literarisch Gebrauch zu machen gewußt hat. Dies ist ihm zwar im vollen Maße in der Musik gelungen, aber man hat weder in der Dichtkunst noch in den bildenden Künsten in Böhmen die Mahnung Jan Nerudas zur Genüge beherzigt, "in die Weltliteratur würden nur die aufgenommen, die in ihrer persönlichen Tracht, sagen wir in der Nationaltracht, erscheinen" hauptsächlich im Roman und im Drama spiegelt sich das eigennationale Leben der Cechen im Vergleich zur Literatur der Russen oder derjenigen der Skandinavier recht farblos ab. Die Bilder vom bäuerlichen Landleben, das sich lange Zeit den Reiz der Ursprünglichkeit und den würzigen Heimatduft zu wahren gewußt hat, bilden ehrende Ausnahmen; es bleibt das Verdienst der deutschen Romantik, der russischen Slavjanophilie und der Volkskunde als Wissenschaft, daß sie der cechischen Schriftstellergemeinde nach und nach· die Augen für die Auffassung dieses charakteristischen Umkreises geöffnet und geschärft haben. Die hervorragendsten Darsteller der heimatischen Welt, der Romantiker Holecek und die Realistin Tereza Novakova, sind im gleichen Maße der europäischen Beachtung wert, wie sie ihren ebenbürtigen Zeitgenossen Selma Lagerlöf und W. Reymont zuteil geworden ist. In ihnen gipfelt der lange Entwicklungsgang, den der cechische Roman in der Schilderung von außerbäuerlichen Gesellschaftsschichten erst gegenwärtig durchzumachen anfängt. Die beiden sind ja von der farbigen und malerischen Oberfläche des Volkslebens, die doch den Gegenstand der Volkskunde bildet, bis zu seinen geistigen Strömungen hinabgestiegen, die nur ein Psychologe zu fassen und ausschließlich ein Dichter zu verkörpern versteht. 7 Wenn die cechischen Romanschriftsteller - die erwähnte Dorfgeschichte ausgenommen - zur Gleichmäßigkeit des landläufigen europäischen Durchschnitts mit nur einer geringfügigen und obendrein mehr stofflichen als formellen Nuance beigesteuert haben, darf man hinwiederum betreffs der Zierde der cechischen Literatur - der lyrischen Poesie - den großen Erfolg bei Suche nach persönlichem Ausdrucksvermögen nicht in Abrede stellen; freilich kann dies nur ein Kenner der Originale beurteilen. Besonders ist es ein Dichtungszweig, der von der Romantik angefangen bis in unsere Tage herauf immer wieder auflebt, und hier Blüten gezeitigt hat, deren Farbe, Gestalt und Duft ein ästhetisch vorgebildeter Beobachter auf den ersten Blick von der übrigen europäischen Produktion zu unterscheiden vermag; Namen wie Celakovsky und Erben, Neruda und Sladek, Bezruc, Dyk und Wolker bezeichnen hier eine beinahe hundertjährige Über" lieferung. Diese Lyriker, teilweise Balladendichter, schätzen das dekorative Moment ebenso wie das rhetorische gering, Dinge, ohne welche die Lyrik der Romane kaum jemals auskommt, aber sie legen das Hauptgewichtauch nicht a.uf das ausschließlich melodische Element, welches wieder die Seele der deutschen und russischen Lyrik bildet; die gnomische Bündigkeit und die gehaltvolle Kürze in ihrem Ausdruck scheinen den Nachweis zu erbringen, daß der mißtrauische und stets zur Kritik hinneigende Verstand den Erguß der Empfindung vorsichtig überwacht,ohne je ihre Entfaltung in eine breite Melodienwelle zu gestatten. Dieses· Prinzip scheint vielfach vom Volkslied herzustammen und abgelauscht zu sein, das besonders im östlichen Teil des cechoslovakischen Gebietes bis vor kurzem lebte und überaus bewußt die Wortkünstler beeinflußte; daher und seiner reichen Mannigfaltigkeit wegen darf die Literaturgeschichte am Volkslied keineswegs achtlos vorbeigehen. Aber dieses sowohl ergiebige als auch zugleich die äußerst persönliche Ges.taltungskraft freimachende Prinzip herrscht in der cechischen Lyrik nicht ausschließlich, es pflegt zeitweilig sogar einem anderen, geradezu entgegengesetzten Prinzip zu unterliegen; dieses aber ist der fremden Dichtung, und zwar anfangs der Antike, dann der deutschen Klassik, später der französischen Lyrik, entnommen worden. Es ist dies das Prinzip einer ~g!!1pl~::. zierten Dichtungsarchitektur, die von dem dekorativen und rhetorischen Element reichlich Gebrauch machend, auf überpersönliche Objektivitä t gerichtet ist und das Gefühlselement der Ge- 8 dankendisziplin unterordnet - wozu in den Ansätzen der neu~ cechischen Poesie J an Kollar einen zwar kühnen, aber unzulänglichen Schritt getan hat, das brachte mit seiner umfass~nden Dichterintelligenz und mit seiner· einzig dastehenden Formgabe Jaroslav Vrchlicky in ein folgerichtiges System, das machte sich endlich mit äußerst künstlerischer Zucht für die höchsten Gedankenflüge des cechischen Geistes Otokar Bfezina eigen und dienstbar. Es gibt wohl Kritiker, die dieses auf dem Gebiete der dichterischen Form wirklich revolutionierende Unternehmen für ein gewalttätiges Verlassen der heimischen Tradition halten und es zum Auswuchs einer gefährlichen Fremdensucht stempeln, aber auf alle diese im Grunde :edlen ,Befürchtungen und ehrliche Bedenken gibt es die Antwort, daß die fremden Kenner immer wieder erklären, wie ihnen geradezu aus der Dichtung Vrchlickys der echte slavische Gefühlston rein und hell entgegengeklungen, und wie aus den Hymnen und Visionen Bfezinas der cechische religiöse Grübelsinn :seiner ganzen: Sehnsucht nach Gotteswahrheit und nach sittlich-gesellschaftlicher Gerechtigkeit zu ihnen gesprochen habe, wie man sie nur aus den Gipfelerscheinungen der cechischen Geisteskultur des 15. Jhs. kennen lernen kann. So führt uns die Lyrik, die schwierigste und reifste Dichtungsart der cechischen Literatur, mit ihren Stilproblemen direkt in den Brennpunkt aller Lebensfragen des ganzen literarischen Schaffens der Nation ein. Denn das Ringen zwischen der heimischen Überlieferung einerseits und der europäischen Orientierung andererseits ist für die Ce ehen und für ihre Kultur von derselben Bedeutung wie etwa das historische Ringen zwischen dem Slavjanophilentum und dem Westlertum in Rußland. Der cechische Nationalcharakter schwankt allzeit zwischen zweI Extremen: zwischen der selbstgefälligen Überschätzung alles Heimischen, zwischen hartnäckiger Verehrung der einmal eingelebten Vorurteile einerseits und dem ungeduldig neugierigen Interesse für die allerjüngsten Strömungen der Fremde, der Bereitwilligkeit, sich ihnen mit sklavischer Nachahmung hinzugeben andererseits; dort Ausschweifungen eines extremen, bis zum Chauvinismus ausartenden Nationalismus, hier Verirrungen eines bis zum sterilen Fremdenliebe verzeichneten Kosmopolitismus, der über das Auffäll~ge und Sonderbare einer Kultur, ja, oft nur einer fremden Halbkultur, die althergebrachte heimische Bildung und Sitte und deren Entwicklungsmöglichkeiten vergessen macht. Nachdem man vor 100 Jahren angesichts der Wiedergeburt 9 aller slavischen Stämme erkannt hatte, daß die Cechen ~nter dem Einflusse der religiösen und politischen Ereignisse hinter dem Westen kulturell zurückgeblieben seien und daß ihre Bildung von so mancher großen Strömung der Neuzeit nicht hinlänglich befruchtet, namentlich aber von der Renaissance, vom Barock, von der Aufklärung und dem Klassizismus ziemlich wenig berührt worden sei, da bemächtigte sich der cechischen Intelligenz eine schier nervöse Hast, nur ja rasch genug "Europa einzuholen", wie ein mehr zutreffendes als geschmackvolles Schlagwort besagt. Dieses Streben entfacht Übersetzertätigkeit, bürdet der Kritik nebst ihrem Richtermetier auch Dolmetscher- und Propagandadienst auf, hetzt die Dichter bei der Stoffwahl durch fremde L~nder und fremde Völker, durch entfernte Zeiträume und Kulturen. Man findet dieses Bestreben sowohl an der Schwelle der Romantik in Jungmanns Trachten nach der "Klassizität in der Literatur", als auch zur Zeit der Dämmerung der Romantik in Nerudas und Haleks Schwärmerei für das Kosmopolitische, Übernationale, Allmenschliche in der Dichtkunst; um eine Dichtergeneration später steigerte sich dieses Streben in den dichterischen und kritischen Heerfahrten Vrchlickys und seiner Freunde aus der Lumirschule zum Rufe nach einer nur durch künstlerische Rücksichten bestimmten Poesie, und hierauf abermals an der Scheide des 19. und 20. Jhs. zur systematischen künstlerischerziehlichen Arbeit des Kritikers Salda zugunsten einer europäischen Orientierung der cechischen Literatur - auf wie fruchtbaren Boden fiel da gerade in Böhmen die deutsche romantische Lehre "von der progressiven Universalpoesie" und wie üppig ist sie dank der eigentümlichen kulturellen Situation in Blüte geschossen! Diese zentrifugalen Tendenzen wurden in der cechischen Literatur nichts weniger als einwandfreI und kampflos aufgenommen, sondern trafen regelmäßig auf die selbsterhaltende, konservative und hemmende Zentripetaltendenz, welche die Notwendigkeit betonte, an der Tradition festzuhalten, Ideen und Vorwürfe aus der Fülle des Nationallebens heraus zu schöpfen, die von dem Sprachund Stilvermögen des eigenen Stammes abgeleiteten Formen zu benützen, es sind dies alles - wie leicht ersichtlich - Folgerungen des Nationalismus, welche nach der kulturellen und künstlerischen Seite hin gedanklich weiter verarbeitet, sowohl von Utilitaritätsrücksichten als auch von politischer Zuspitzung gereinigt. Das Ringen dieser beiden Richtungen erfüllt das cechische Schrifttum mit dramatischer Lebhaftigkeit, besonders insofern als dessen 10 Protagonisten ihre Rollen darin rasch und unerwartet zu wechseln wissen. Manche von ihnen, wie N eruda oder Slädek, wandeln sich aus Theoretikern des Internationalismus zu eifrigen Predigern und ausdrucksvollen Darstellern der Nationalkunst; so mancher Koryphäe der Nationalschule, beispielsweise Svatopluk Cech, weist entschiedene Einflüsse der westlichen Literaturen auf; eben der konsequenteste Dichterkosmopolit Zeyer findet für die Tragik des Cechentums einen, alle andern übertreffenden, hinreißenden Ausdruck. Heimat und Welt, Böhmen und Europa, selbsterhaltende im Heimatboden wurzelnde Treue und das Lied der Sehnsucht nach den höchsten Gütern der Menschheit, das in den Baumkronen rauscht, dies war die Kontrapunktik der cechischen Literatur und wird es sicher auch bleiben. Es kann auch nicht anders sein bei einem Volke, das durch seIn Schicksal bis an die Kulturkreuzwege Mitteleuropas vorgeschoben ist und in dessen Adern sich das Blut mehrerer Rassen mischt, die an diesem hochwichtigen und gefährlichen Knoten der Zivilisationsbahnen zusammentrafen, einander befehdeten, sich bald vermählten, bald wieder sich trennten, einander haßten und doch einander innerlich ergänzten, um wider den eigenen Willen den Beschluß der Vorsehung zu verwirklichen, die ja weder in dem Schicksal des einzelnen, noch im Schicksal der Völker eine allzu einfache Lösung zu lieben scheint. In der Morgenröte der cechischen Nationalgeschichte, in der Zeit, da gleichzeitig an zwei Orten die Versuche unternommen werden, aus den formlosen Stammesmassen ein wirkliches Staatsgebilde ins Leben zu rufen, und da mit der christlichen Lehre die ersten Anfänge einer literarischen Kultur im Entstehen begriffen waren, riß das siegreiche Vordringen und die Entstehung des magyarischen Staates die Cechen von dem südlichen und zum Großteil von dem östlichen Slaventum und zugleich für immer von der griechisch-byzantinischen Kultur ab, der sie zeitweise unterlagen; seit.dieser Zeit sind die Cechen dem Westen dauernd verfallen, der durch alte römische Traditionen und die lateinische Kirchenliteratur geeinigt worden war. Die vereinzelten religiösen und politischen Versuche, mit der russischen Orthodoxie in kulturelle Beziehung zu treten, mußten in der älteren Zeit vollends versagen; der Einfluß des Russischen auf die cechische Schriftsprache war in der Epoche Jungmanns zwar ein tiefgreifender, zeigte sich trotzdem aber nur von vorübergehender Bedeutung. Von dem russischen Realismus wurde die cechische Literatur offensichtlich beeinflußt, aber keineswegs etwa in einem höherEm 11 Maße als die übrige Literatur Europas. Die Russenbegeisterung, die auf politischem Gebiete keine geringe Demonstration bedeutete, erbrachte für die Kultur und insbesondere für die Literatur keine wahrnehmbaren Erfolge. Ähnliche Bewandtnis hatte es mit dem slavischen Gedanken, von dem in bezug auf Kollars Wechselseitigkeit und ohne Rücksicht auf die Slavjanophilie in Rußland, das geistvolle, wenn auch übertreibende Bonmot geprägt wurde, er sei made in Bohemia. Seit Palacky, bis auf Masaryk und Kramaf, erwies er eine ansehnliche politische·· Tragweite, indem er zugleich sehr ausgiebig das Nationalbewußtsein förderte; seit Jungmanns und Kollars Zeiten bis auf Svatopluk Cech und Holecek erklang er immer wieder als stolzes Programm und vorlaute Forderung, griff aber in den gestaltenden Organismus der Literatur nicht ein. Die Cechen wußten sich zwar für die Novemberrevolution Polens zu begeistern, sie nahmen auch unter Machas Führung von der älteren polnischen Romantik poetische Anregungen auf, in gleicher Weise, wie sie vorher beim polnischen Rokoko-Pseudoklassizismus in die Schule gegangen waren, aber das leuchtende Dreigestirn der Polenromantik fand gerade in Böhmen keinen nachhaltigen Widerhall. Ganz ähnlich waren die Südslaven Kopitar und Karadzic wohl in Fragen des·Studiums der Volks poesie Lehrer der zweiten Generation der Wiedererwecker in Böhmen und desgleichen ließ auch das serbische Heldenideal die spätromantischen Slavjanophilen unter den Cechen nicht gleichgültig; aber, sobald man einer tieferen Einwirkung der südslavischen Volksepik auf die cechische Dichtung forschend nachgeht, kommt man bis auf vereinzelte, durchaus nicht als typisch zu deutende Fälle, zu einem negativen Ergebnis. Gewiß können sich die C,echen mit ihren Übersetzungen bedeutender Werke aus fast allen Slavenliteraturen seit den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart ausweisen, aber sie dürften kaum behaupten, daß sie sich von ihnen befruchten ließen und in ihrer literarischen Entwicklung von den gleichen oder wenigstens analogen Strömungen bestimmt würden wie die übrige Slavenwelt; wiewohl eben bei ihnen die Lehre von einer gemeinslavischen Literatur als vom organischen Ganzen und einheitlichen Objekt der historischen Forschung zahlreiche Verfechter in Theorie und Praxis besitzt und dies auch außerhalb des Kreises romantisch veranlagter Geister. Die Westkultur, in die sich die Cechen bereits vor 1000 Jahren als Kettenglied völlig eingefügt haben und auf' die sie bisweilen 12 mit unterbewußt wirkenden Kräften ihres Rassenslaventums reagieren, unterwarf sich ihr Volk und ihr Schrirttum vorerst mittels der gemeinschaftlichen kirchenlateinischen Grundlage; auch in Böhmen sind in den ersten Ansätzen der Entwicklung die Träger der Literatur fast ausschließlich Kleriker. Der Ritterfeudalismus dringt nach Böhmen auf dem deutschen Vermittlungswege ein und bringt deutschen Stoff und deutsche Form in die Literatur mit herein, aber der Volks geist und das nationale Bewußtsein stellt sich erfolgreich zur Wehr gegen die vordringende literarische Germanisierung, welche bloß ein Ausdruck der allmählichen Germanisation der cechischen vorhussitIschen Volksgemeinschatt ist. Von viel geringerer Tragweite zeigen sich die romanischen, französischen und italienischen Einflüsse, die sich schon im ersten Jahrhundert der Literatur, offenbar unter der Einwirkung der Luxemburgerdynastie bemerkbar tmachen und dIe für die allerersten Anfänge der religiösen Bewegung und des Humanismus wohl nicht ohne Belang sind. Das Hussitenturn und das Böhmische Brüdertum schwemmt sie dann mit einem Stoß durch eine mächtige nationalbewußte Welle hinweg, ohne es treilich verhindern zu können, daß neuerdings die deutsche Reformation und der .deutsche Humanismus zur Herrschaft gelangten über die cechischen Geister, deren Orientierung in großem Maße einseitig und deren Originalität sehr zweifelhaft ist. Die vielfältigen und verschiedenartigen Einwirkungen der romanischen Welt, unter denen die bildende Kunst und die Musik in Böhmen seit dem 16. bis 18. Jh. steht, haben keine Analogie im Schrifttum; Gedanke, Geschmack und Stil, ja, sogar die Sprache werden immer mehr vom deutschen Geist abhängig. Daher steht unter den Forderungen der nationalen Wiedergeburt anfangs des 19. Jhs. die Entdeutsehung an erster Stelle, aber es ist dies ein ungewöhnliches Paradoxon, daß die cechischen Wiedererwecker die innere und äußere Germanisierung hauptsächlich mit den Waffen bekämpfen, die vor allem in der deutschen Rüstkammer geschmiedet worden waren und deren sich insbesondere die nachnapoleonische und antinapoleonische Romantik in Jena, Heidelberg und Wien bedient hat. Die literarischen Vorkämpfer, gestützt auf ihre weitreichenden Kenntnisse der nichtdeutschen, dichterischen, wissenschaftlichen und philosophischen Welt: Jungmann der französischen, Palacky der englischen, Macha der polnischen, Havlicek der russischen, sind bestrebt, von dort Gedanken und Werke herüberzubringen, aber der allgemeine Geist erscheint während des Zeitalters des 13 Klassizismus, der älteren und jüngeren Romantik und des tendenziösen Realismus im großen und ganzen deutsch orientiert. Eine sowohl entscheidende als auch anhaltende Wendung vollzieht sich erst in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, da Rieger auf dem Gebiete der Politik, die konsequent antideutsch bleibt, freundliche Beziehungen zu Frankreich sucht; da gelingt es den Anhängern der Lumirschule mit Vrchlicky an der Spitze die"cechische Poesie zu entdeutschen, zehn Jahre darauf entdeutscht Masaryk die cechische Philosophie, und wieder ein J ahrzehnt später entdeutscht Salda die cechische Ästhetik. Der radikale Anschluß der cechischen Poesie an die literarische Tradition Frankreichs gelang auf den ersten Wurf, obwohl dies der ganzen bisherigen Entwicklung widersprach und im poetischen Stile beinahe einer Revoltion gleichkam. Dieser Anschluß zeigte sich von festerem Bestande, als sein Urheber Vrchlicky selbst erwarten mochte; dagegen wurde und wird bis jetzt, trotz Vrchlickys und Zeyers Eintreten, die übrige literarische Kultur der Romanen nur mit Gleichgültigkeit aufgenommen. Wie einst die einseitige einflußreiche Vorherrschaft des Deutschen für die auf kulturelles Gleichgewicht bedachten Männer kränkend war, so fühlte man bald auch diese freiwillige Romanisierung als ein Hindernis der selbständigen Entwicklung, aber da sich die slavischen Literaturen trotz des lauten Pathos von seiten des politischen Slaventums nicht hinreichend wirksam erwiesen haben, suchte man ein Gegengewicht der anglo-amerikanischen Kultur, die sich einigemal verlor - als sich auf dem cechischen Boden die Stimme eines WicHf, Shakespeare, Milton, Shaftesbury, Byron vernehmen ließals gesund und anregend gezeigt hatte. Die Anknüpfungsversuche nach dieser Richtung hin, seit Sladek über Masaryk bis auf Karel Capek, vollzog sich nur ganz langsam und erst nach dem Weltkrieg, als auch Amerika in das Blickfeld der cechischen literarischen Welt getreten war, kann man von einer einigermaßen länger andauernden Beeinflussung sprechen. Doch darüber ein Urteil zu fällen, steht einem Historiker vorläufig nicht zu, da man eben mitten in einem noch nicht abgeschlossenen Prozesse steht. Wenn man unter der cechischen Literatur den Inbegriff sowohl der Kunstliteratur als auch der mündlichen Volkstradition versteht, ist ihr zeitliches und räumliches Ausmaß wirklich ein großes. Ihre Schriftdenkmäler, anfänglich nur Bruchstücke geringen Umfangs, kann man seit dem 12. Jh. verfolgen, und zwar auf einem Landgebiete, das infolge der Expansion des deutschen 14 Elements manches von seinem ursprünglichen Ausmaß einbüßte und sich in horizontaler Richtung vom Böhmerwald an der hayrischen Grenze bis nach Glatz und bis an die östliehst gelegenen Ausläufer der Karpathen an, der ukrainischen Grenze erstreckt; in vertikaler Richtung aber vom Isergebirge in der Umgebung Reichenbergs bis ziemlich tief nach Österreich hinein. Hier überall spricht und singt man die eine oder die andere von den mehr oder weniger verschiedenen cechischen oder - wie man heute aus mehr politischen als wissenschaftlichen Gründen sagt - cechoslovakischen Mundarten; hier erklingt überall, auf der Kanzel, in der Schule, bei der Behörde und in der Zeitung die cechische Schriftsprache, die infolge des Anschwellens der Literatur und Journalistik die einzelnen Mundarten rasch zu verdrängen droht. Gegen diesen Entwicklungsprozeß kämpft seinen vergeblichen Kampf der Separatismus, der sehr spät erst Mundartliteraturen ins Leben gerufen hat, die übrigens die einzige, die slovakische infolge ihrer Bedeutung und Quantität ausgenom~en, kaum anderem Zwecke als der Unterhaltung ehgerer Landsleute untereinander und dem Sonderwesen der einzelnen Bezirke dient. Daß man in Behandlung der cechischen Literatur auch das einbeziehe, was man früher Volkspoesie nannte und was man heutzutage als mündliche Volksüberlieferung bezeichnet: das Märchen, die Sage, das Puppenspiel und vor allem die Produkte der Volksepik und das Volkslied, dafür spreohen viele Gründe. Diese sind aber literarischer, nicht bloß ethnographischer Art. Daß alle diese Arten seit der romantischen Epoche die Kunstpoesie beeinflussen, wurde hIer schon erwähnt und zu den beliebtesten und ergiebigsten Prinzipen der romantischen Ästhetik zählte das Axiom, die völkische Eigenart werde am treu esten in den Werken zum Ausdruck gebracht, welche wenigstens im Stil mit der Volkspoesie übereinstimmen. Diese Volkstraditionen sind das einzige authentische Produkt der literarischen Schaffenskraft jener anonymen Schicht, die gesellschaftlich zu unterst steht, mit ihren Wurzeln in Boden und Rasse haftet und 80 das eigentliche Volk repräsentiert; bei den Cechen sind dies insgesamt kleine Handarbeiter der Provinz, Bauern und Häusler, Handwerker im wahren Sinne des Wortes auf dem Lande und in der Stadt, endlich die Händler aus dem Volke, welche vielfach den Verkehr mit der Welt besorgen. Heute sind die Träger der völkischen Tradition vielfach im Absterben begriffen und überdies stehen sie mit der Kunstliteratur in engem Verkehr und variieren zum Großteil ihre 15 Formen und Motive - Denkmäler aus dieser vorliterarischen Zeit sind nur spärlich, und noch dazu verzeichnet und in späteren Fassungen erhalten, die wohl nicht tiefer als in das 18. Jh. hinabreichen, übrigens ein Zeitraüm, aus dem uns sonst dichterische . Erzeugnisse in beklagenswert geringer Zahl zur Verfügung stehen. Aber eine eingehende Analyse dieser Volkserzeugnisse, die sowohl das Stilistische als auch das Stoffliche ins Auge faßt, weist auf eine viel ältere Grundschicht hin, die in den. meisten Fällen bis zu den Wurzeln der slavischen Einheit hinabführt, die sonst unter dem vielschichtigen Kulturaufschutt verborgen liegt - wie es nun kühn und problematisch ist, die gemeinslavischen Züge in der cechischen Kunstliteratur aufdecken zu wollen, so ist andererseits richtig und notwendig, diesen schlechthin slavischen Zügen in der cechischen Volkspoesie nachzugehen; hier murmelt und rauscht, mit den Worten des Dichters gesprochen, die Musik der Quellen. Wofern es sich um ein authentisches und unmittelbares Bild der Volksseele handelt, lassen sich mit dieser Volkspoesie auch nur im entferntesten nicht die Kunstprodukte der den niedrigen Schichten entstammenden Schriftsteller vergleichen, die bestrebt sind, entweder unter dem Einfluß eines romantischen Volkskultus, oder unter Mitwirkung eines modernen Ethnographieinteresses das wahre Wesen der Volksseele festzuhalten. Zwischen Vorhaben und Verwirklichung liegen hier regelmäßig künstliche Theorien, bewußte oder unbewußte Muster heimischer oder fremder Literatur, Widerhall. der Literaturmoden, den Originalvorwürfen wird dadurch eine vielfache Umwandlung zuteil, die sie aber von den authentischen Lebensvorlagen entfernt - den äußerst eigenartigen" und doch nur künstlichen Schöpfungen des Celakovsky und Erben, der Nemcova und Novakova, des Hole{:ek und Herben mag man zugestehen, daß das Landvolk wohl ihr Objekt gewesen ist, ihr Schöpfer war es nicht. In den ältesten Zeiten der cechischen Literaturentwicklung rührt die gesamte literarische Produktion von zwei Klassen her, einerseits von der P~iesterklasse, die infolge der ganzen Kirchenorganisation der lateinischen Internationalität huldigt, andererseits aus dem niederen Ritteradel, der sich zwar die westliche Feudalkultur zu eigen macht, aber dabei überaus treu und entschieden, im Kontrast zu dem stark germanisierten Hochadel, das Nationalbewußtsein wahrt und wehrt. Mit der fortschreitenden Demokratisierung der Gesellschaft, welche schon die Hussitenstürme ankündigt, dringt der niedere Klerus und das Bürgertum 16 in die Literatur ein, indem es sie mit freierem Geist erfüllt. Diese zwei Klassen verleihen ihr seit dem 15. Jh. ein eigenes, von der alten Feudalverschlossenheit grundverschiedenes Gepräge: sie führen dann sowie die Popularisierung der Theologie herbei, so auch die Verbürgerlichung des Humanismus durch, der bis jetzt bloß eine Strömung innerhalb der Aristokratie repräsentierte. Diese Aristokratie aber war in der Fremde ausgebildet worden und richtete sich nach dem Schlagwort: odi profanum vulgus. Wie im übrigen Europa, zeichnete sich in Böhmen das Bürgertum des 15.-17. Jhs. keineswegs durch poetischen Sinn aus und vermochte anstatt Phantasie und Formalkultur nur Moralkritik des Lebens oder bestenfalls nur bodenständigen Realismus und Alltagshumor in die Literatur hineinzutragen; dieser Charakter des Bürgertums war zugleich mit einer ausschließlich religiösen Orientierung der cechischen Intelligenz bis in das 17. Jh. hinein die Ursache, daß das eigentliche dichterische Schaffen in Böhmen beinahe ganz verkümmert blieb und daß die schöne Literatur hatte nicht zur Entwicklung gelangen können. Die Verhältnisse verschlimmerten sich noch während des allgemeinen Verfalls nach der Schlacht am Weißen Berge, damals, als die ganz dünne literarisch produzierende Schicht nur von der gelehrten Priesterschaft gebildet wurde, die trotz ihrer Herkunft aus dem Volke unter der Einwirkung des barocken Humanismus der Poesie ferne blieb und überdies ein wirkliches literarschöpferisches Interesse kundzugeben fürchtete. Nebst dem Sprachverfall, dem Verlust der literarischen Tradition, der Auswanderung der Führerpersönlichkeiten ins Ausland, nebst der politischen und seelischen Gebundenheit, neben dem Schwinden des Nationalbewußtseins - war eine nicht zu geringschätzende Folge der Niederlage am Weißen Berge für die cechisehe Literatur der Umstand, daß sie vollends ihrer gebildeten Gesellschaftsklassen beraubt wurde, die literarisch schuten, die Literatur pflegten und in sich aufnahmen; nur in der anonymen Volksklasse war die Schöpferkraft nicht erstorben und sammelte ihre Kräfte für eine bessere Zukunft. Der Adel war für die Cechen gänzlich verloren, das Bürgertum verfiel der Entnationalisierung, nur der fluktuierende und geistig regsame Priester- und Gelehrtenstand, mochte er sich nur des Barocklatein oder des Aufklärungsdeutsch bedient haben, hütete und beschützte das zarte Flämmlein der Tradition vor gänzlichem Erlöschen. Behilflich war ihm dabei der Umstand, daß er selbst meistens den Volksmassen entstammte, innerhalb deren man cechisch dachte, empfand und sprach. 17 Gerade aus diesen Schichten ersteht dann an der Scheide des 18. und 19. Jhs. die nationale Wiedergeburt und diese Klassen waren es, deren Werk und Ausdruck seit jener Zeit die cechische Literatur ist. Ihr Träger und Konsument ist die städtische Intelligenz, die den arbeitenden Klassen der Provinz entstammend, studienhalber in die Stadt gekommen war, sich Sitte und Ansprüche der Stadt angeeignet hatte und unter immerwährendem Streben nach gesellschaftlichem Aufschwung sich die demokratische Gemütsart und die durch den L.iberalismus des 19. Jhs. verstärkten demokratischen Neigungen bewahrt hat. In Ermangelung einer wirklichen Gesellschaftstradition, ersetzten sich eine solche diese europäisch gebildeten und in ihren Lebensbeziehungen einfachen Emporkömmlinge fle~ßig auf künstliche Art durch historische Erinnerungen. In diesem jungfrischen Gesellschaftskreise, wo es weder einen Adel noch eine reiche Geld- oder Fabrikbourgeoisie gab, konnten freilich nicht jene literarischen Formen aufkommen, deren Voraussetzung langwährende Tradition, feste Lebenskonventionen und durch Konversation geschliffener Sprachausdruck ist; daher hinkt der cechische Roman und das cechische Drama - das historische und volkskundliche Genre ausgenommen - soweit hinter der cechischen Lyrik nach und gelangt zur Entfaltung erst in den letzten Generationen, wo sich auch die reiche Bürgerschaft mit ihrem Volk eins fühlt und denkt. Dafür' rühmt sich das cechische Schrifttum eines für die junge demokratische Gesellschaft besonders kennzeichnenden Zuges. in dieser darf man nämlich die Frau nicht auf Vorteile einer körperlich und geistig gepflegten, geistreichen und vielverehrten Dame bauen, sondern sie siegt und gewinnt nur zufoige ihrer Arbeitskraft, selbständiger Lebenstüchtigkeit und dank ihrem schöpferischen Scharfsinn. Demnach ist es seit der Zeit der Bozena Nemcova eine immer wiederkehrende Erscheinung, daß gerade eine Schriftstellerin der cechischen Literatur ihr eigentümliches Gepräge aufdrückt; und dies geschieht in einem Ausmaß, daß es sogar die Anteilnahme der Frau in der polnischen Literatur übertrifft, die doch eine Orzeszkowa, Konopnicka, Zapolska besitzt. Diese cechischen Schriftstellerinnen betonen in ihrem Schaffen eher alles das, worin es eine Frau ihrem männlichen Widerpart gleichzutun wünscht, als die spezifisch weiblichen Merkmale: uneingeschüchtert scharfe Beobachtung, lebhaftes Interesse für Moralfragen, eine nicht versiegende Lust am Reformieren der Gesellschaft, bisweilen auch einen besonderen Sinn fürs Kon- 2 18 struktive und daher ragen sie auf dem Gebiete des Romans viel stärker hervor als in der Lyrik, die ja die treueste Beichte eines Gefühlsmenschen ist; in der Literatur, in welcher einer George Sand, einer George Eliot nicht nur ernste Schülerinnen, sondern sogar gefährliche Rivalinnen erwachsen sind, in der gibt es keine Dichterinnen, die mit einer Annette von Droste-Hülshoff oder Elisabeth Barrett-Browning Ähnlichkeiten aufwiesen, geschweige denn sich messen könnten. In den letzten sechzig Jahren gibt es schon für das cechische Schrifttum eine feste gesellschaftliche Grundlage, und zwar in der jungen Bürgerschaft, die sich immer wieder durch Zufluß neuer Kräfte aus dem Bauernsta.nde und aus der Arbeiterschaft verjüngt und sich mit Schul- und Beamtenintelligenz mischt. Es ist eine gesunde, frische unternehmungslustige Schicht; an Leben und Realität hängend, lehnt sie mißtrauisch jegliche Metaphysik l.!nd Mystik ab, legt zwar Neigung zum Kritischen an den Tag, läßt sich aber nicht bereitwillig auf spekulative Gebiete ein; in ihrem Demokratismus, der ein aufrichtiger Ausdruck ihrer Herkunft aus dem Volke ist, und mit ihrem mehr sozial gefärbten Liberalismus, beachtet sie herzlich wenig das Königreich Gottes auf Erden, das die Vorfahren gesucht haben, läßt ihre ganze Sorge dem Ausbau und der Festigung der jungen Republik angedeihen. Diese verursacht aber mit ihren zahlkräftigen Minderheiten, aber auch mit ihrem cechoslovakischen Dualismus sogar den begabtesten unter den führenden Staatsmännern mehr Schwierigkeiten, als sich wohl der Optimismus des Harrens und Sehnens je träumen ließ, der freilich durch die unerwartet große Ausdehnung und weitgehendste Unabhängigkeit des Staatsganzen übertroffen worden ist. In Übereinstimmung mit diesen Lebensbedingungen ist die zeitgenössische cechische Literatur vom Geiste des Vitalismus durchweht, von der Wirklichkeits zuversicht erfüllt und steht dem Naturalismus näher als der Romantik - dies alles erscheint aber von den im Westen gebräuchlichen Dichtungsformen mit sorgloser Gleichgültigkeit gegenüber der Tradition bestimmt, welche aber trotzdem hier und da in starkem Strom aus der geistigen U nterwelt desVolkes hervorbricht, um seine edelsten und eigenartigen Kräfte freizumachen. Ein gebildeter Ausländer, der zu wiederholten Malen bemerkt hat, wie Politiker, Historiker und Philologen das cechische Volk zur slavischen Gemeinschaft rechnen, fühlt sich zur Frage gedrängt, ob das cechische Schrifttum jene Werte auch wirklich beinhalte, derentwegen sich die bedeutendsten von den slavischen 19 Literaturen, die russische und polnische, der Beachtung in der Welt erfreuen, einesteils: die Fähigkeit, Grundprobleme des sittlichen Bewußtseins in Gestalten und hinreißend wahre Handlungen nach Art des russischen realistischen Romans zu projizieren, anderenteils: die Kühnheit, die Gefühlstragik des Volkes bis in die religiös-kosmische Sphäre emporzuheben, was der Vorzug der großen Romantiker Polens war. Die Antwort, welche die Literaturgeschichte auf diese Fragen geben kann, ist eine ziemlich zurückhaltende. Was das erstere anbelangt, so ließ die verspätete Entwicklung des cechischen Romans keine großzügigen Schöpfungen von allgemein menschlicher Gültigkeit entstehen, und überdies bezeigt der cechische Geist auf dem Gebiete der Moral Abneigung gegen das Spekulative und bleibt in seinem praktischen Realismus gern an konkreten Objekten haften, die zu typisieren er entweder nicht weiß oder es nicht will. Was den zweiten Punkt betrifft, fehlte es wahrhaftig nicht an Bedingungen, unter denen die cechiBchen Schriftsteller imstande wären, aus der Kombination: Religiosität und Nationalität gediegene Werte zutage zu fördern. Ist doch ihre religiöse und politische Geschichte oftmals durch tragische Peripetien hindurchgegangen und nie hat es an Männern gefehlt, die im direkten Verkehr mit Gott stehend, in ihre Gebete auch die Erlösung und Verklärung ihres Stammes miteingeschlossen hätten. Sie sind trotzdem Ausnahmsfälle geblieben mitten in einem gar zu positiven und praktischen Menschenschlag, mochte es im 15. Jh. der Starrkopf von einem Kritiker des verdorbenen Christentums sein, wie der nach Prophetenart eifernde Petr Chelcicky, oder im 17. Jh. der evangelische Enzyklopädist J an Amos Komensky, der in seiner halb lyrischen, halb rhetorischen Prosa das Verhältnis des Individuums sowie des Kollektivums zu Gott zum Ausdrucke brachte, oder der vor kurzem verstorbene mystische Dichter mit seinem visionär ins Weltall gerichteten Blicke, Otokar Bfezina. Derartige und von ihnen verschiedene und doch ihnen gleichwertige, große und hervorragende Erscheinungen der cechischen Literatur auszuwählen, zu erklären und zu würdigen, zu zeigen, daß auch in ihnen eine verborgene, aber beachtenswerte Tradition verwirklicht wird, mit ihnen andere Schriftsteller und Dichter zu vergleichen, die ihnen den Weg gebahnt haben, und die Geistesströmungen, die sie getragen und emporgeschwungen haben, zu enthüllen - das ist die höchste Aufgabe der cechischen Literaturgeschichte, welche in Wort und Werk die Seele des Volkes ergründen will.